Eine Frage der Persönlichkeit

Dieser Artikel stammt aus unserem Buch »Forscherinnen im Fokus – Wir schaffen Veränderung«

Arbeiten Frauen anders als Männer und wirkt sich Diversität auf Wissenschaft aus? Dr. Isabel Michel und Dr. Jörg Kuhnert berichten von ihrer Erfahrung aus der gemeinsamen Entwicklung der Software »MESHFREE« und der Zusammenarbeit an Projekten zur gitterfreien Simulation am Fraunhofer-Institut für Techno- und Wirtschaftsmathematik ITWM. 

Jörg: Klar forschen Frauen anders als Männer. Inländische Teammitglieder gehen aufgrund ihres kulturellen Hintergrunds allerdings auch anders vor als ausländische und Ingenieur:innen setzen auf anderes Wissen als Mathematiker:innen. Aus meiner Sicht ist die Diversität aus männlich, weiblich, verschiedenen Forschungsgruppen eine Bereicherung. Ich hoffe also nicht, dass Frauen bei uns anders behandelt werden als Männer. Für mein Empfinden ist die Industrie ebenfalls achtsam und aufgeschlossen, da zählt die fachliche Kompetenz. Deswegen geht auch zum Glück nicht mehr alles über meinen Tisch als Gruppenleiter. Hier schließt sich das Thema Vereinbarkeit bzw. Work-Life-Balance an: Forschung und Entwicklung lassen sich nie wirklich vorhersagen und Aufwände sind nur schwer planbar. Als stellvertretender Abteilungsleiter trage ich zudem eine Verantwortung für die Mitarbeitenden, Doktorand:innen, Masterstudierenden sowie Projektpartner:innen. Auch aus diesem Grund habe ich das Angebot des mobilen Arbeitens nicht wahrgenommen. Ich möchte »Work« und »Life« räumlich klar trennen. Das ist sicher eine Frage der Persönlichkeit, aber in jedem Fall eine persönliche Entscheidung, die von Fraunhofer in jedem Fall respektiert wird.

Isabel: Bei uns am Institut sind viele Frauen beschäftigt; in unserem Team sind aktuell drei von zehn, bald vier von elf Personen weiblich. Intern ist das Geschlecht kein Thema, alle vertrauen auf die Qualität und das Wissen des oder der anderen. Auch in Situationen, in denen wir uns uneinig sind, ist nur das entscheidend. Im Moment diskutieren wir zum Beispiel darüber, wie wir die Übersichtlichkeit über die Software-Versionen von »MESHFREE« behalten oder über welche der zahlreichen möglichen Wege wir strukturiert kommunizieren. Da gibt es in der Gruppe ein Spannungsfeld, jede:r hat andere Prioritäten. In der Zusammenarbeit mit Externen trifft man fast ausschließlich auf Männer; da muss man als Frau schon dafür sorgen, dass man seine Kompetenz wirklich transportiert. Ich kann nur für mich sprechen: Als zurückhaltende Person fiel mir das zu Beginn schwerer, man gewinnt aber an Selbstsicherheit und Selbstverständnis. Das gilt übrigens auch für die Auswahlmöglichkeiten zwischen Voll- und Teilzeit, Büro oder Homeoffice: Ich nutze die Angebote gerne, wie sie zu meinem Leben passen. Vor allem aber habe ich großen Spaß daran, wenn vor Ort im Team Innovation am Whiteboard entsteht.

Sieg nach Punkten: Hochpräzise Simulation mit »MESHFREE«

Ein Auto fährt durch eine tiefe Pfütze und hinterlässt sichtbare Spuren auf den Personen, die eben noch entspannt auf »grün« warteten? Fußgänger:innen lieben diesen Trick! Doch auch für Fahrende kann es zu kritischen oder gefährlichen Situationen kommen, oder es ist einfach nur ärgerlich, wenn das Auto in Mitleidenschaft gezogen wird. Mit der Simulationssoftware »MESHFREE« wird dies schon während der virtuellen Konstruktion verhindert. Entwickelt und vorangetrieben wird die Lösung von einem Team rund um Jörg und Isabel aus der Abteilung »Transportvorgänge« des Fraunhofer ITWM. Beteiligt sind zudem das Fraunhofer-Institut für Algorithmen und Wissenschaftliches Rechnen SCAI und Unternehmen aus verschiedenen Branchen.

Bei der Analyse des Strömungsverhaltens von Wasser hat sich die digitale Simulation schon seit vielen Jahren bewährt. Die Untersuchungsergebnisse fließen unter anderem in die Entwicklung eines Fahrwerks ein. Bisher war das aber mit hohem Aufwand verbunden: Für das Beispiel mit der Pfütze musste ein Rechengitter erzeugt werden, das die gesamte Fahrzeugaußenfläche mit jedem Strukturdetail abbildete. Dann war es nötig, jede Bewegung des Autos, das Verhalten der Wassertropfen und deren Wechselwirkungen mit vorbeiströmender Luft zu modellieren – für jeden Zeitschritt, also für jeden Abstand zwischen zwei berechneten Zuständen! 

MESHFREE Schifffahrt Simulation
© freepik / Fraunhofer ITWM
Die Interaktion von Wellen und einem Schiff ist ein hochkomplexer Prozess. Mithilfe von MESHFREE werden solche Prozesse simuliert und Optimierungspotenziale im frühen Entwurfsstadium erkannt.

Punkte statt Gitter

Wohin und wie weit spritzt das Wasser der Pfütze, wenn ein Auto mit 20, 50 oder 100 km/h hindurchfährt? Gibt es Aquaplaning? Dringt Wasser ins Innere der Karosserie und wenn ja, wie viel und wohin? Die Software »MESHFREE« liefert schneller hochpräzise Ergebnisse als diese bisherigen Rechengitter. Dafür setzt sie auf virtuelle Punkte, mit denen sie dynamische Prozesse wie freie Oberflächen, bewegte Geometrien oder große Deformationen abbildet.

In der »MESHFREE«-Simulation besteht eine Pfütze also aus vielen Punkten. Jeder Punkt erhält bestimmte Informationen zu Materialeigenschaften oder zur Geometrie. Damit kann er sich selbstständig an die Dynamik der Strömung anpassen – unter Verwendung der Informationen seiner Nachbarpunkte. Außerdem kann sich die Punktewolke mit der Geschwindigkeit des Fahrzeugs, des Wassers oder der Luftströmung mitbewegen. Die Wassertropfen lassen sich – dank des von den Forschenden entwickelten Algorithmus – also von ihrer Ruhelage in der Pfütze über die Wellenbewegungen und die Flugphase bis zum Auftreffen auf einem Fahrzeugbauteil nachvollziehen.

Universell einsetzbar

Viele Unternehmen aus der Fahrzeugindustrie wie die Porsche AG setzen bereits auf »MESHFREE«. Weil die Software für die Berechnung immer auf dieselben Lösungsalgorithmen und Verfahren setzt, werden bei Bedarf auch Strömungseigenschaften anderer Materialien wie Stahl, Sand, Luft oder Kombinationen analysiert. Das Überschlagen eines Fahrzeugs auf sandigem Untergrund, das Strömungsverhalten bei Füllvorgängen in der Lebensmittel- oder Pharmaindustrie oder auch das Verhindern von Flutkatastrophen sind nur einige Beispiele. Für Isabel und ihre Kolleg:innen ist auch das ein Motivator, die Lösung immer weiterzuentwickeln und den Nutzen der Software bei potenziellen Kund:innen klar verständlich zu machen. Schließlich wollen sie auch für neue Anwendungen, Frage- und Problemstellungen Antworten liefern – damit der Sieg nach Punkten bleibt!