KI statt 007: Die spannenden Fälle warten in der Mathematik

Dieser Artikel stammt aus unserem Buch »Forscherinnen im Fokus – Wir schaffen Veränderung«

Stehen Schauspiel und Mathematik im Widerspruch? Dr. Henrike Stephani, stellvertretende Abteilungsleiterin »Bildverarbeitung« am Fraunhofer Institut für Techno- und Wirtschaftsmathematik ITWM, hat beides ausprobiert. Am Ende wählte sie den wissenschaftlichen Weg – aus ganz unterschiedlichen Gründen.

Das Studium der Theaterwissenschaften in Berlin sollte die Zeit überbrücken, bis ein Platz an einer Staatlichen Schauspielschule frei würde. Um das Berufsbild besser kennenzulernen, machte Henrike eine Regie-Hospitanz am renommierten Deutschen Theater in Berlin. »Irgendwie gefiel mir die Berufsrealität nicht«, blickt sie heute zurück. »Mich schreckte auch die hohe Wahrscheinlichkeit ab, dass ich keinen Job bekommen würde, der mein Leben finanziert.« Also folgte sie einem Zitat der Schauspielerin Judi Dench, die lange Jahre als Chefin »M« von James Bond über die Leinwand flimmerte: »Wenn Du Schauspielerin werden willst oder Dir vorstellen kannst, etwas anderes zu machen, dann mach das andere!«

Kreativ und menschennah mit Mathematik

Das Bedürfnis, besonders schwierige Dinge zu lernen und die immer vorhandene Begeisterung für das Fach, führte Henrike zum Mathematikstudium. Nicht ohne Respekt: »Es wird immer erzählt, dass Mathematik schwierig ist. Die eigentliche Herausforderung besteht aber darin, sich nicht entmutigen zu lassen, wenn man abstrakte Dinge mal nicht sofort versteht. Ich mochte an meinem Studium, dass man sich so ›rein-nerden‹ kann«, sagt sie. Außerdem sei die Mathematik nicht nur trockenes Regeln Aneinanderreihen: »Ich gehöre zu den Kopfleuten, den Theoretikern. Da passiert viel auf der Metaebene, viele Gedankengänge sind enorm krea - tiv. Wie in einem guten Roman – es gibt überraschende Wendungen, auf die man nie gekommen wäre, aber auch Schritte die nachvollziehbar nacheinander passieren.« Nie geändert habe sich außerdem, dass sie gerne mit vielen Menschen interagiere: »Deswegen wäre eine reine Uni-Karriere auch nichts für mich gewesen. Es blieb also noch ein Job in der Unternehmensberatung oder in der angewandten Forschung.« 

Henrike bewarb sich auf eine Stelle beim Fraunhofer ITWM in Kaiserslautern. Hier begann ihr Weg 2008 mit der Promotion, führte 2012 zu einer Festanstellung und 2014 zur Position als stellvertretende Abteilungsleiterin »Bildverarbeitung«. Für Henrike ist das Fraunhofer ITWM aber mehr als ein Job. Es ist das Mitgestalten und Verändern, das sie antreibt. Deswegen war sie viele Jahre als Gleichstellungsbeauftragte aktiv, bringt sich in strategische Themen ein und ist in Rheinland-Pfalz als Referentin der »KI-Lotsin« Prof. Dr. Anita Schöbel Ansprechpartnerin für Expert:innen sowie Anwendende von Künstlicher Intelligenz. 

KI verändert die Arbeit

Seit 2008 hat sich also viel verändert. Statt klassisch modellierter Lösungen ist es heute die KI mit Neuronalen Netzen, die viele Aufgaben übernimmt, Forschende vor Herausforderungen stellt und neue Herangehensweisen fordert. »Die Bildverarbeitung ist eine der ersten Disziplinen, in der besonders deutlich wurde, dass KI bessere Ergebnisse liefern kann als der Menschzumindest, wenn man am Anfang und Ende des Prozesses sehr genau ist.« Auch persönlich hat sich einiges getan. Statt aktiver Wissenschaft sind es heute Management-Aufgaben, die Henrikes Alltag bestimmen. Dazu zählen neben Projektmanagement, Anträgen und Meetings auch Dienstreisen. In ihrer Abwesenheit kümmert sich ihr Mann, ebenfalls Wissenschaftler am Fraunhofer ITWM, um die zwei Kinder. Er hat seine Stelle auf 90 Prozent reduziert, während sie Vollzeit arbeitet. »Bei Fraunhofer können wir zudem die Arbeits- und Homeoffice-Zeiten sehr flexibel gestalten. Ich ergänze in der Regel eine intensive Arbeitsphase im Büro bis 15 Uhr durch flexible Arbeitsphasen am Nachmittag und Abend zu Hause in Abwechslung mit Familienzeit.« 

 Dr. Henrike Stephani
© Fraunhofer ITWM
Henrike: »Folge Deinen Begabungen, guck offen in die Welt. Wenn Du etwas suchst, mit dem Du etwas bewirken kannst und gleichzeitig interessante, engagierte Menschen als Kolleg: innen haben möchtest, ist die angewandte Forschung sicher etwas für Dich!«

Forschung mit Wirkung

Wie treffen nun aber junge Menschen die richtige Entscheidung hinsichtlich ihres künftigen Karrierewegs? Henrike sagt: »Folge Deinen Begabungen, guck offen in die Welt. Wenn Du etwas suchst, mit dem Du etwas bewirken kannst und gleichzeitig interessante, engagierte Menschen als Kolleg:innen haben möchtest, ist die angewandte Forschung sicher etwas für Dich!«

Ein Fall für Deep Learning: Katastrophenhilfe mit Drohnenbildern

 

Erdbeben, Fluten, Brände: Zahllose Katastrophen machen Länder zu Krisengebieten und Menschen zu Hilfsbedürftigen. Mit KI-gestützter Bildanalyse haben Wissenschaftler:innen wie Henrike die Software »EDDA« entwickelt. Sie verbessert die Notfallkoordination und beschleunigt damit wichtige Hilfseinsätze.

Lange Zeit waren Satellitenbilder die einzige Chance, die Lage in Katastrophengebieten zu sondieren und den Einsatz von Helfenden zu planen. Doch der Prozess der Bildauswertung dauerte zu lang und führte manches Mal zu Falschinterpretationen, die in fehlgeleiteten Hilfsgütern mündeten. 

Mit »EDDA« immer am richtigen Ort

Neue technologische Möglichkeiten wie unbemannte Drohnen haben den Prozess dank Luftbildern in Echtzeit bereits schneller gemacht. Die gerade gewonnene Zeit zerrinnt allerdings im Sichten der vielen Einzelbilder. Mit der Software »EDDA« ist mit Forschenden wie Henrike und ihren Kolleg:innen auch dieses Problem gelöst. Leiter des Projekts ist ihr Abteilungsleiter Markus Rauhut. Sie haben Bildverarbeitungs- und Deep-Learning-Algorithmen entwickelt, mit deren Hilfe Drohnenbilder schneller und exakter ausgewertet werden. User:innen brauchen nur ein Laptop, nicht mal eine Internetverbindung ist erforderlich. 

Software, die selbstständig lernt

Für den am Ende einfachen Vorgang ist anspruchsvolle Vorarbeit der Wissenschaftler:innen notwendig. Mit erheblichem manuellem Aufwand versehen sie zunächst Daten wie Satellitenbilder von älteren Hilfseinsätzen sowie Modelldaten mit Hintergrundinformationen: Wie ist der Zustand der Straße, wie der Zustand der Häuser, können die Brücken noch genutzt 110 werden und wie viele Menschen leben an dem jeweiligen Ort? Auch Informationen zum Wasserpegel lassen sich inzwischen abbilden. Diese Bilder werden in das dem menschlichen Gehirn nachempfundene Neuronale Netzwerk der Software gespeist. Im Anschluss geht es für »EDDA« in echten Krisengebieten ins Training. Hier lernt sie auf Basis der hinterlegten Daten und Bildverarbeitungs- sowie Deep-Learning-Algorithmen, neu aufgenommene Fotos selbstständig zu erfassen, zu klassifizieren und zu analysieren. Weil es immer wieder neue Daten mit neuen Informationen gibt und diese Informationen immer wieder neu miteinander verknüpft werden, wird »EDDA« automatisch von Einsatz zu Einsatz besser. 

Frau N. Hofer und Drohnen
© Fraunhofer ITWM / freepik
Frau N. Hofer sucht mit einer Drohne das Katastrophengebiet ab.

Gemeinsam für die humanitäre Hilfe

Das Projekt »EDDA« wurde von der Fraunhofer-Stiftung gefördert. Auch deswegen können NGOs und Notfall-Teams die Anwendung kostenfrei nutzen. Außerdem arbeiten die Forschenden eng mit Initiativen wie dem World Food Programme (WFP) der Vereinten Nationen zusammen. Sie liefern die wichtigen Realdaten aus Krisengebieten, ermöglichen das Training in der Praxis und tragen mit ihrem Feedback aus echten Einsätzen dazu bei, dass »EDDA« auch in Zukunft wertvolle Hilfe im Notfall leisten kann.