Anfang Dezember 2020 fand das Webseminar »Math for Industry 4.0 – Models, Methods and Big Data« des European Consortium for Mathematics in Industry – kurz ECMI – statt. Unser Bereich »Mathematik für die Fahrzeugentwicklung« engagiert sich intensiv bei ECMI, war Mitveranstaltender des Webseminars und beteiligte sich mit einem Vortrag an dem Event. Ein Anlass nachzuhaken, worin die Aktivitäten bei ECMI bestehen und wo die aktuellen Forschungsschwerpunkte liegen.
Swenja Broschart (Team Kommunikation):
Joachim, Du leitest die Abteilung »Mathematik für die digitale Fabrik« im Bereich »Mathematik für die Fahrzeugentwicklung« und bist einer der drei deutschen Vertreter im ECMI-Council. Wie sieht das Engagement des Bereichs bei ECMI aus?
Joachim Linn:
Die Verknüpfungen des Fraunhofer ITWM mit ECMI reichen sehr lange zurück. Unser Institutsgründer und ehemaliger Leiter Helmut Neunzert war schließlich Mitgründer und 1988 sogar ECMI-Präsident. Anfangs war fast das gesamte Institut bei ECMI aktiv – wobei wir damals natürlich noch deutlich weniger Mitarbeitende waren als heute.
Unsere Abteilung engagiert sich seit 2013/2014 wieder verstärkt bei ECMI – wir veranstalten und liefern Beiträgen zu Seminaren und Mini-Symposien. Damals wurde die Special Interest Group (SIG) »Mathematics for the Digital Factory« gegründet, was genau dem Arbeitsschwerpunkt entspricht – das ist schließlich auch der Name der Abteilung »Mathematik für die digitale Fabrik«.
Das kürzlich abgehaltene ECMI-Seminar war dann eine größere Aktion der Special Interest Group, bei der wir mit den Themen Kabelsimulation und digitale Menschmodellierung – also mit beiden Forschungsschwerpunkten unserer Abteilung im Bereich der digitalen Fabrik – vertreten waren.
Swenja Broschart:
Kaiserslautern ist sogar einer der ECMI Nodes. Was bedeutet das?
Joachim Linn:
Neben unserem Bereich »Mathematik für die Fahrzeugentwicklung« sind die Kolleginnen und Kollegen der Abteilung »Transportvorgänge« schon sehr lange bei ECMI aktiv. Auch die AG Technomathe der TU Kaiserslautern engagiert sich nnch wie vor stark bei dem Konsortium. Somit ist Kaiserslautern ein wichtiger Standort für ECMI. Unser Göteborger Tochterinstitut FCC, das mit uns zusammen die Software IPS Cable Simulation entwickelt, ist ebenfalls seit 2000 bei ECMI dabei.
Swenja Broschart:
Das von Euch entwickelte Softwarepaket IPS Cable Simulation ermöglicht eine Simulation von Kabeln und Schläuchen in Echtzeit. Fabio, du bist an der Entwicklung beteiligt. Was ist denn Euer aktueller Forschungsstand und woran arbeitet Ihr gerade?
Fabio Schneider:
Das Simulationswerkzeug IPS Cable Simulation ist schon weit verbreitet im Einsatz, vor allem in der Automobilentwicklung. Eine wichtige Säule bei Simulationen sind realistische Modellparameter. In unserem Fall sind dies die mechanischen Eigenschaften der Leitungen. Um das Verhalten von Kabeln und Kabelbündeln in Autos schon in der rein virtuellen Produktentwicklung sinnvoll simulieren zu können, benötigen wir möglichst genaue mechanische Eigenschaften.
Der sicherste Weg realistische Modellparametern zu erhalten sind Messungen von konkreten Leistungsproben. Nun ist die Anzahl an Kabeln im Fahrzeug noch überschaubar, die Anzahl an möglichen Kabelbündeln – also gebündelten Kabeln – wird jedoch schnell unübersichtlich. Diese alle zu messen wäre sehr aufwendig bzw. gar nicht möglich, weil nötige Proben von Kabelbündeln in frühen, virtuellen Entwicklungsphasen oft noch gar nicht verfügbar sind. Dann bleibt einem nur die mechanischen Eigenschaften zu schätzen. Dazu gibt es prinzipiell zwei Möglichkeiten: Man kann modellbasiert arbeiten oder datenbasiert.
Swenja Broschart:
Fabio und Lilli, könnt Ihr kurz erklären, wie sich die beiden Möglichkeiten unterscheiden und worin Euer Ansatz besteht?
Fabio Schneider:
Modellbasiert bedeutet, man erstellt von den Kabelbündeln Detailmodelle, parametriert diese in der Regel physikbasiert und simuliert damit die unbekannten Größen – in unserem Fall also die effektiven mechanischen Eigenschaften des Bündels. Die Schätzungen rein auf Modelle zu basieren ist für Bündel aber nicht praktikabel, da die Vielfalt dieser zu groß ist. Es gäbe eine riesige Menge an verschiedenen Modellen. Wir wissen aber trotzdem Einiges über die Bündel, was wir auch für einen datenbasierten Ansatz ausnutzen können.
Lilli Burger:
Bei einem datenbasierten Ansatz arbeitet man mit vorhandenen (Mess-) Daten, die oft – wie auch in unserem Projekt – als Ein- und Ausgangspaare betrachtet werden. Maschinelles Lernen (ML) bedeutet im Wesentlichen, mithilfe des Computers aus den gegebenen Datensätzen Muster bzw. Modelle abzuleiten und diese dann zur Vorhersage zu benutzen. Die Übertragungsmodelle werden mithilfe der vorhandenen Daten trainiert, die Muster werden erlernt und können dann auf neue Eingangsdaten angewendet werden. Ein entscheidender Punkt dabei ist natürlich die Vorauswahl geeigneter Modelle sowie die Vorverarbeitung der charakteristischen Eingangsparameter, hier spielt insbesondere Systemverständnis und Wissen über das zu erwartenden Übertragungsverhalten eine entscheidende Rolle.
Swenja Broschart:
Das kürzlich abgehaltene ECMI-Webseminar »Math for Industry 4.0 – Models, Methods and Big Data« habt Ihr mitveranstaltet und wart auch mit einem Vortrag zu genau diesem Thema vertreten. Vanessa und Lilli, Ihr habt den Vortrag gehalten. Worum ging es bei dem Beitrag?
Vanessa Dörlich:
Wie Lilli gerade erklärt hat, benötigen wir für das Maschinelle Lernen sehr viele Trainingsdaten. Wir sind in der glücklichen Situation, dass wir unsere selbst entwickelte Kabelmessmaschine MeSOMICS haben, um Trainingsdaten zu ermitteln. Wir können also selbst die Big Data generieren, dir wir benötigen, um den Schätz-Algorithmus zu trainieren.
Im ersten Teil unseres Vortrags lag der Fokus auf unseren experimentellen Aktivitäten zur Messung der Kabel-Steifigkeitsparameter mithilfe der MeSOMICS-Maschine. Wir haben mittlerweile eine große Datenbasis aufgebaut und sehr viele Kabelproben und Kabelbündelproben vermessen, die wir selbst hergestellt haben. Unsere Big Data sind also diese Daten zu Kabeln und Kabelbündeln. Nun soll auf Basis dieser Datensätze ein Schätzalgorithmus entwickelt werden bzw. eine Schätzung durchgeführt werden, um aus den Kabelbündelparametern die Kabelbündelsteifigkeiten zu schätzen, die für die Simulation in IPS Cable Simulation benötigt werden.
Lilli Burger:
Zur Schätzung der Bündelsteifigkeiten verwenden wir Gauss-Prozesse zur Regression, ein etabliertes Verfahren aus dem Bereich des Maschinellen Lernens. In dem zweiten Teil des Vortrags haben wir daher zunächst die wesentlichen Eigenschaften von Gauss-Prozessen sowie deren Anwendung in unserem konkreten Projekt dargestellt. Abschließend haben wir unsere Ergebnisse präsentiert. Wir konnten zeigen, dass wir mit Gauss-Prozessen Kabelbündelsteifigkeiten auf Basis von Kabelbündelparameter und Parametern der im Bündel zusammengefassten Einzelkabel mit hinreichender Genauigkeit ableiten können.
Swenja Broschart:
Wie weit seid Ihr bei diesem Vorhaben?
Lilli Burger:
Wie wir in unserem Vortrag darstellen konnten, ist es möglich, mit Gauss-Prozessen und unserer guten Datenbasis Kabelbündel-Steifigkeiten zu schätzen, was für viele Anwendungen in der Industrie einen großen Mehrwert darstellt: Vorhandene Datensätze aus durchgeführten Messreihen können nachhaltig verwertet werden und neue Versuche und Messungen eingespart werden. Für viele Anwendungen wird darüber hinaus auch die Torsions-Steifigkeit der Kabelbündel benötigt. Die Messungen in MeSOMICS dazu sind weitestgehend abgeschlossen, jetzt sind wir dabei Gauss-Prozess-Modelle für die Schätzung von Torsions-Steifigkeiten zu trainieren, um die ersten Schätzungen auszuwerten. Ein weiterer Schwerpunkt aktueller Arbeiten liegt im methodischen Bereich: Wir untersuchen Ansätze, die Erstellung und Anreicherung der Trainingsdatenbasis zu optimieren.
Swenja Broschart:
Viel Erfolg bei diesem Vorhaben! Und sind schon weitere Aktivitäten bei ECMI in Aussicht?
Joachim Linn:
2021 findet Mitte April die ECMI 2021 als virtuelle Konferenz in Wuppertal statt, als Ersatz für die letztes Jahr in Limerick – das ist der ECMI-Aktivposten in Irland – geplante Konferenz, die leider wegen der Pandemie abgesagt werden musste. Ich bin dort wieder als Co-Organisator des Minisymposiums der SIG »Mathematics for the Digital Factory« aktiv, an dem wir uns mit vier Beiträgen beteiligen werden. Aus dem Bereich »Mathematik für die Fahrzeugentwicklung« wird es noch einen weiteren Beitrag geben, zum Minisymposium »Data-driven Optimization«, das von Simone Göttlich und Claudia Totzeck – beide sind Alumnae der AG Technomathe – organsiert wird. Ich schätze, dass aus anderen Abteilungen und auch von der AG Technomathe noch einiges kommt, und der ECMI-Knoten Kaiserslautern auf der Konferenz insgesamt wieder mit einem guten Dutzend Beiträgen vertreten sein wird.
Wir versuchen also, auch zu Pandemiezeiten unsere Vernetzung in der Technomathe-Community aufrecht zu erhalten. Wir hoffen natürlich alle, dass wir uns 2022 wieder bei einer »realen« ECMI-Konferenz treffen können. Persönlich hoffe ich darauf, dass die Limerick-Konferenz demnächst dort nachgeholt wird. Ich würde meine dorthin im März 2018 bei unserem SIG-Workshop geknüpften Kontakte gerne vor Ort intensivieren.